Donnerstag, 10. Juni 2010

Märchenprinz und andere Syndrome

Überkommene Idealvorstellungen jenseits jeglicher Plausibilität und der Privatfernseh-Mischmasch aus Sozialpornos, Soaps und US-Serien fügen sich zu einem Gesamtbild zusammen, das die aktuellen Geschlechterrollenkonstruktionen für die nächsten Generationen weiterschreibt und die Beziehungsfähigkeit der Menschen nachhaltig beeinträchtigt.

Märchenprinzen, weiße Pferde und Kutschen

Vereinfacht dargestellt lief die Mädchenerziehung in Sachen Beziehungen jahrhundertelang nach dem selben Schema ab: Spätestens ab dem vierten Lebensjahr hörten die Mädchen Geschichten von Märchenprinzen, die später dann etwas abgestuft zu "der Richtige" werden.
Dieser "Richtige" würde sich dann unverzüglich als solcher zu erkennen geben, oder gar von den Eltern als solcher identifiziert werden. Und: er setzt idealtypische Vorstellungen in die Tat um, wird also Papas kleine Prinzessin zu seiner Königin machen.
Je besser es der Erziehung gelang, diese Vorstellung nachhaltig den Töchtern einzuprägen, umso leichter fiel es in der heißen Phase der Erziehung, selbige vor dem jugendlichen Überschwang der heranreifenden Männerwelt zu beschützen.
Unangenehme Nebeneffekte wie die Tatsache, dass zwangsläufig die erste halbwegs ernsthafte Teeniebeziehung dann mit dem tief verankerten Bild vom Märchenprinz in Verbindung gebracht werden muss und das notwendige, unausweichliche Zerbrechen dieser Beziehung zu einem kaum überwindbaren psychologischen Schaden führen würde, wurden dabei billigend in Kauf genommen.
So funktionierte es - und es funktionierte schlecht. Doch das schien jahrhundertelang kaum jemanden zu stören. Wenn dann nämlich Märchenprinz Nummer zwei oder drei ein weißes Pferd und eine Kutsche anmietete, väterlichen Segen erwarb, dann konnte man doch in das königliche Schloss einziehen, nicht wahr?

Verliebt in Anna und Berlin in guten wie in schlechten Zeiten?
Doch das ist alles Unsinn und Märchen aus der Vergangenheit! Wer glaubt denn heute noch so einen Mist?
Zu viele Menschen tun das, leider. Zwar haben die gesellschaftlichen Umbrüche nach dem II. Weltkrieg vor allem in westlichen Gesellschaften geschickt die Verknotung von Märchenprinzen und Geschlechtsverkehr aufgelöst, was ja unbedingte Voraussetzung für die "freie Liebe" war, zu der alle, die nach 1955 geboren wurden, heillos zu spät kamen. Davon einmal abgesehen hat sich allerdings wenig verändert.
Das Mitleben und Mitleiden mit literarischen Figuren ist dabei nicht die Neuigkeit - das schaffte man schon im griechischen Theater. Die Verwendung von darstellendem Spiel als Vehikel für moralische Botschaften über Lebenskonzepte, Vorstellungen davon, was richtig und falsch ist, vor allem aber für die Vorstellung vom geglückten Leben ist ebensowenig neu wie originell.
Dass die gesellschaftlichen Bedingungen der Zeit in die Handlung eingearbeitet werden, ist auch nicht neu - mit der Darstellung einer stutenbissigen Karrierefrau hätte man halt in der Antike, sagen wir, das Genre verfehlt. Stellt sich die Frage: sind die Handlungen neu? die Handlungsverläufe, die Gestaltungsprinzipien? Nein, nichts ist neu. Wie schon immer, kommt der normale, durschnittliche und vor allem vernünftige Mensch nicht vor - und der "Hausverstand" ist ins Werbefernsehen abgewandert.

Oberschichtenromantik (nicht nur wegen der Fallhöhe) wird im Unterschichtenfernsehen dem bildungs- und moralfernen Publikum vorgeführt und mit moralischen Botschaften von Menschen, die selbst keine Haltung, kein Ethos besitzen, gewürzt. Unter der Oberfläche findet unbemerkt von Autoren, Aktueren und Publikum die postbutlersche Rekonstruktion von Geschlechterrollen aus dem viktorianischen Zeitalter statt. Verschleiert wird das durch die Einbeziehung moderner Grundtypen: Karrierefrauen kommen ebenso selbstverständlich vor wie homosexuelle Männer (Lesben sind da eher nicht gefragt, Ausnahmen aus den Frühneunzigern bestätigen die Regel) - und natürlich AlleinerzieherInnen, Patch-work-Konstellationen aller Art.
Überspitzt könnte man fast sagen: hat man einen Schwulen im Programm, fällt keinem mehr auf, wenn man mit dem selben Programm extrem konservative Wertvorstellungen vermittelt und propagiert.

Sex and the Hospital

Serienhits von Heute kommen ohne Sex und Ärzte nicht aus. Was in den 90ern die Anwälte waren, sind jetzt die Ärzte. Die Botschaften sind die selben: Hab einen coolen Beruf, dann hast du viel Sex. Viel und guten Sex zu haben ist Ziel, Zweck und vielleicht sogar überhaupt Rechtfertigungsgrund für das Dasein. Sexualität wird zum Grundbedürfnis, dessen Befriedigung Priorität vor allen anderen Gründbedürfnissen hat. Und: Am Ausmaß dieser Befriedigung wird persönlicher Erfolg gemessen, nicht nur das, auch soziale Kompetenz. Die wirklich angsehenen Rollen in diesen Serien haben die Akteure, die mit den Worten "Ich brauch jetzt Sex!" sich den oder die Nächstbeste schnappen und mit ihr in einem Medikamentenlager verschwinden.
Auf der anderen Seite ist es natürlich höchst bedeutsam, wer, mit wem, wann, warum und sogar wo sexuelle Begegnungen hat. Das liefert Gesprächsstoff und hält die meist schwache Dramaturgie am Laufen, die sonst wahrscheinlich pro Folge eine unüberschaubare Menge von höchstdramatischen Einzelschicksalen benötigen würde, um irgendwie Spannung aufzubauen.
Am Rande sei natürlich auch erwähnt, dass diesen Serien-Sex, der natürlich nur in der Form der Mauerschau vorkommt, meist die Akteure haben, die jung, schlank und gemäß der aktuell von der Medienwelt propagierten Vorstellungen gutaussehend sind. Ausnahmen dienen lediglich zur Erzielung eines kurzen Lacheffekts.

Reality: Sozialpornos

Was die Ärzte können, können die Unterschichten in den Plattenbauten schon längst! Ob bei Teenager werden Mütter oder sonst wo, man weidet sich an den sozialen, sprachlichen und intellektuellen Defiziten der bildungsfernen Schichten. Doch nicht genug, die finden das auch selbst noch höchstinteressant und begeistern sich für die Sendungen - möglicherweise, weil sie Menschen sehen, die irgendwie sind wie sie, aber halt noch ein bisschen schlechter.
Längst ist offenbar geworden, dass hinter diesen Sendungsformaten die Ergötzung an der Unzulänglichkeit anderer steht, die vielen Menschen oft die einzige Möglichkeit ist, sich von der eigenen abzulenken. Nur logisch, dass immer mehr Sendungen darauf abzielen, diese Menschen "herzurichten" wie sie nach Vorstellung der RedakteurInnen gehören.
Die Frage, was diese Menschen mit den schillernden Persönlichkeiten aus den Ärzteserien zu tun haben, lässt sich auf den zweiten Blick relativ leicht beantworten: sie sind das Gegenbild, der Kontrapunkt, das abschreckende Beispiel.

Der neue Mensch?

Die Wertevermittlung durch die Medien scheint auf Hochtouren zu laufen und sie funktioniert sowohl direkt wie auch sublim durch das Festsetzen von Idealvorstellungen. Zusammengefasst und ein bisserl weniger zynisch als hier im Blog findet man dieses Ergebnis in einem Essay von Clemens Berger: Suche nach neuen Menschen. Wenn auch sperrig, durchaus lesenswert!

Jetzt, so könnte man meinen, würde sich herausstellen, dass der zentrale Wert, der hier vor allem bei den Unterschichten ankommen müsste, doch eigentlich die Bildung wäre, die den deutlichen Unterschied zwischen den DoktorInnen bei Greys Anatomy und den Müttern und Großeltern bei Teenager werden Mütter ausmacht.
Doch: falsch gedacht. Der Wert der Bildung ist der breiten Masse immer noch gänzlich unbekannt. Die Message, die ankommt, ist auch nicht Liebe, Menschlichkeit und Verständnis - sieht man von den leicht durchschaubaren Nischenprodukten aus evangelikalem Umfeld einmal ab. Was ankommt ist: Sex. Und zwar: guter Sex.

Guter Sex
Relativ deutlich zeichnet sich aus allen Medienprodukten ab, was "guter Sex" ist. Das mag vielleicht daran liegen, dass sich die unterschiedlichsten DrehbauchfabrikantInnen zwar nicht darauf einigen können, was gute Bildung ist, was ein gelungenes Leben ist, ... aber: darüber, was guter Sex ist, darüber sind sich fast alle Serien einig:

  1. Von gutem Sex wird man nicht schwanger, es sei denn, man wünscht sich ein Kind.
  2. Guten Sex hat man dann, wenn man ihn will, und sonst nicht.
  3. Guten Sex hat man mit attraktiven, erfolgreichen Menschen. Daraus folgt logischerweise:
  4. Guten Sex haben nur attraktive und erfolgreiche Menschen.
Die Liste ließe sich wahrscheinlich noch fortsetzen, aber für den Punkt, auf den ich jetzt hinaus will, reicht es schon mal: Sexualität wird zum Vehikel der Selbstbestätigung. Sie ist nicht mehr der Trieb, den die einen in ihr sehen, und sie ist nicht mehr der Ausdruck tief empfundener, personaler Beziehung, wie sie aus christlicher Sicht zu sehen wäre.

Gravierender als all das zusammen ist eigentlich nur mehr die Tatsache, dass dieses Wertediktat auch an hochgebildeten, differenziert denkenden und sensiblen Menschen durchaus Wirkung zeigt - verherende, manchmal.